Ursprünglich komme ich nicht aus einer
Großstadt. Es zog mich erst, wie einen Großteil meiner Generation,
zum Studium dorthin. Ehrlich gesagt komme ich nicht einmal aus einer
Stadt. Ich wohnte in einer Vorstadt. Wobei die angrenzende Stadt eher
eine Kleinstadt ist. Wenn man das zusammen zählt, komme ich also aus
einer "Vorkleinstadt". So würde
sich niemand in Berlin vorstellen. Die härtesten Fakten, die
dunkelsten Geheimnisse am Anfang von etwas Smalltalk vor sich
auszubreiten kommt meistens nicht gut an. Sätze wie Ich
war mal Crystal-Meth abhängig
kann vieles zerstören.
Stellen
wir uns den Dialog zwischen Rick und Kaptain Renault in Casablanca
etwas umgedichtet vor, um das gesagte zu unterstreichen: Rick sieht
dem Kaptain in die Augen und sagt I think this is the
beginning of a beautiful friendship.
Der Kaptain antwortet seinerseits Well, then you should now
that i am from Brandenburg. My Vather never told me, he was proud of
me.
Ich meine, ich
fände das toll. Rick aber bestimmt nicht.
Es reicht jedoch
nicht, aus einer Kleinstadt zu kommen. Ich komme nicht aus
irgendeiner Kleinstadt, ich komme aus Bremerhaven. Das ist den
meisten Leuten nicht so geläufig. Zum Glück. Man könnte es auch
als die arbeitslose Proletariatsecke Bremens bezeichnen. Arbeitslos,
weil die offizielle Zahl bei 27 % liegt. Die steigt natürlich
ständig. Arbeitslose haben viel Zeit, sich zu vermehren. Natürlich
hat man als Bremerhavener Arbeitsloser auch Verpflichtungen wie
kriminell und drogenabhängig zu werden, wenn aber erst mal kein
Pfand mehr auf der Straße liegt und man sich nicht gewaschen hat,
wird es Zeit für die Kneipe oder die Bänke vor dem Hauptbahnhof, um
verwirrten Touristen direkt zu zeigen, wo sie hier gelandet sind.
<Bremerhaven, du
Eddel. Geh mal ne Runde um´ Pudding, aber vergiss mol dein Teli
nicht. Digger.>
Die Kriminalitätsrate ist übrigens die
dritthöchste Deutschlands.
Wenn es dir in
Berlin mal schlecht geht, dich das Grau und die Anonymität ankotzt,
dann fahr nach Bremerhaven. Du wirst niemals wieder so froh gewesen
sein, nicht angesprochen zu werden. In Marzahn wirst du dich sicher
fühlen. Obdachlose wirst du fortan für die gesunde Mittelschicht
halten.
Ich fuhr vor
einiger Zeit wieder in die Heimat. Ich kam am Hauptbahnhof an,
Bahnsteig Nummer drei. Es gibt dort nur Bahngleis zwei und drei. Die
fetten, ungewaschenen Typen mit rosanen Unterhemdenbegrüßten mich
freundlich. Als Einheimischer weiß ich mich in diesen Situationen
jedoch korrekt zu verhalten. Es gibt Codesätze und Körperausdrücke,
mit denen man reingelassen wird. Der Stand muss breitbeinig sein, um
deine Männlichkeit auszudrücken. Ob du männlich oder weiblich
bist, ist in diesem Fall egal. Anschließend gib etwas von dir, was
du vorher am Vormittag auf Sat1 oder RTL gehört hast. Ein weibliches
Beispiel, der Emazipation halber:
Fremder: <Ey Süße,
willste nicht mit...zu dir?>
Antwort: <Tam
werd dir gleich meinen Fotzendübel in deine hässliche Fresse
ballern, Hurensohn. Vallah mach nicht so!>
[A. d. Hrsg. : <Mit meiner Mithilfe entschlüpft mein Tampon
gleich meinem weiblichen Geschlechtsorgan und wird sich einen Weg in
deine orale Zone bahnen. Lass mich bitte in Ruhe.> ]
Es gibt natürlich
auch Probleme, die man nur als Einheimischer besitzt. Wie z.B, dass
man Leute kennt. Als ich ankam und auf den Bus wartete, traf ich
einen völlig betrunken Mittzwanziger, der eine Heckenschere in der
Hand hielt. Es war 16:30 und er wollte nach Hause, weil er sein Geld
in der Spielothek [A. d. Hrsg. „Spielo“] verloren hatte. Er kannte mich, ich
ihn nicht. Zum Glück stieg ich in einen anderen Bus. In der letzten
Reihe saßen die "coolen Kids". Cool hieß in diesem Fall
betrunken, mit Fussballtrikos bekleidet und verdammt penetrant. Aber
ein abwechslungsreiches Sexualleben hatten die Jungs vorzuweisen. Ich
weiß das, weil sie sich ununterbrochen darüber austauschten. Ich
befand mich währenddessen mittig im Bus. Die Reaktion der Mutter mit
dem siebenjährigen Jungen etwas weiter vorn in Bus ließ darauf
schließen, dass sie und ihre strahlende Zukunft der Gesellschaft nun
ebenfalls im Bilde wären. In meiner Buslinie gab es währenddessen
keine Anzeige, welche Station die nächste sein wird. Das braucht man
auch nicht, man kennt ja die Strecke. Touristen verirren sich nicht,
instinktiv wird ihr Adrenalin sie an die Orte treiben, die für sie
geschaffen wurden. Der typische Bremerhavener hält sich davon fern,
er kann es sich nämlich nichts leisten und Pfand wird dort nicht
stehen gelassen, das wäre unsozial und auf längeren Zeitraum extrem
gefährlich. In meinem Bus gab es jedenfalls keine
Haltestellenanzeige, dafür jedoch Kameras. Als einheimischer weiß
man jedoch, dass diese nicht wirklich aufnehmen. Sie sollen nur
abschrecken. Ein Freund von mir wurde einmal im Bus überfallen. Die
Tat wurde glücklicherweise nicht festgehalten, wie peinlich wäre
das denn auch gewesen? Die Handyaufnahmen der Täter sprengen ja
schon fast den Rahmen. So etwas regelt man selbst, man kennt sich ja.
Ist man des Nachts in der einzigen Kneipenstraße unterwegs und kommt in
eine unglückliche Situationen, dann bringt es nichts, mit dem Handy
die Polizei zu rufen. Man kann es gleich abgeben. Oder 25 Minuten
warten, dann sind sie sofort zur Stelle. Weiß man als Bremerhavener.
Die blockieren lieber Busse, mit denen man nach Hause fährt. Razzia
in einem Sonnenstudio. Es wird oft fälschlicherweise davon
ausgegangen, dass die kriminellen in Bremerhaven hauptsächlich
Produkte von fehlgeschlagener Integration seien. Das stimmt aber
nicht ganz. Es sind meistens Deutsche, die sich das erfundene Bild
des kriminellen Ausländers zu Herzen genommen haben und sich von nun
an mit fehlender Artikulation und einer unnatürlichen Solariumbräune
tarnen (in Norddeutschland wird man nicht natürlich braun).
Aber so schlimm,
wie es sich anhört, ist es gar nicht. Es gibt auch kulturelle Einrichtungen, zum Beispiel eine
Bowlingbahn. Achtung, Insidertipp: Die Bahnen werden nach links
teurer, weil sie nicht so ramponiert sind, wie die rechten (jedenfalls
war es vor einigen Jahren so, meine Bowlingkarriere endete an meinem
zehnten Geburtstag – ich verlor). Beliebte Ziele sind auch das
„Auswanderhaus“ und das „Klimahaus“. Dass ihr im Klimahaus
wart, solltet ihr den Einheimischen aber nicht erzählen. Es ist so
teuer, dass es sich niemand leisten kann. Ich war selbst noch nie da.
Wenn euch das
Oktoberfest langweilt, dann geht zum Biermarathon. Das
ist ein Event der Jugend. Sucht euch einen Mitstreiter, geht zum Real
und holt euch einen Kasten Bier. Anschließend müsst ihr beim
Ertönen des Startsignals zum Deich rennen, das sind ca. sechs
Kilometer. Auf dem Weg müsst ihr den Kasten tragen und leeren. Wer
als erstes mit leerem Kasten ankommt, gewinnt. Wer kotzt, wird
disqualifiziert. Diese Events finden übrigens zu jeder Jahreszeit
statt. Ich selbst habe es übrigens einmal auf den zweiten Platz
geschafft. Da die Bilanz besser als beim Bowling war, blieb ich bei
dieser Sportart – irgendwann muss sich jeder spezialisieren.
Den ersten Platz
hat damals ein fetter, ungewaschener Typ mit einem Unterhemd der Farbe Rosa
gemacht, wenn ich mich recht entsinne. Er hätte eine Auszeichnung
bekommen sollen, weil er Oettinger getrunken hat.
Ihr könnt auch das
„Columbuscenter“ besuchen. Das hat den Vorteil, dass ihr es von
außen nicht sehen müsst. Oder ihr geht aufs „Havenplaza“, lasst
euch aber nicht umskaten. Die Skater können nichts dafür, in der
Regel ist es zu gefährlich, die „Skateparks“ (wenn man es so
nennen will) zu besuchen. Ich plädiere seit Jahren dafür, dass dort
Kameras ohne Film zur Abschreckung aufgestellt werden. Wenn ihr nun
lust bekommen habt, diese wundervolle Stadt kennen zu lernen, dann
fahrt dort hin. Sprecht mich bitte nur nicht darauf an, das hier ist
keine Kleinstadt. Ich liebe Anonymität.