Samstag, 26. Oktober 2013

Nur zu Besuch.

Ursprünglich komme ich nicht aus einer Großstadt. Es zog mich erst, wie einen Großteil meiner Generation, zum Studium dorthin. Ehrlich gesagt komme ich nicht einmal aus einer Stadt. Ich wohnte in einer Vorstadt. Wobei die angrenzende Stadt eher eine Kleinstadt ist. Wenn man das zusammen zählt, komme ich also aus einer "Vorkleinstadt". So würde sich niemand in Berlin vorstellen. Die härtesten Fakten, die dunkelsten Geheimnisse am Anfang von etwas Smalltalk vor sich auszubreiten kommt meistens nicht gut an. Sätze wie Ich war mal Crystal-Meth abhängig kann vieles zerstören.
Stellen wir uns den Dialog zwischen Rick und Kaptain Renault in Casablanca etwas umgedichtet vor, um das gesagte zu unterstreichen: Rick sieht dem Kaptain in die Augen und sagt I think this is the beginning of a beautiful friendship. Der Kaptain antwortet seinerseits Well, then you should now that i am from Brandenburg. My Vather never told me, he was proud of me.
Ich meine, ich fände das toll. Rick aber bestimmt nicht.
Es reicht jedoch nicht, aus einer Kleinstadt zu kommen. Ich komme nicht aus irgendeiner Kleinstadt, ich komme aus Bremerhaven. Das ist den meisten Leuten nicht so geläufig. Zum Glück. Man könnte es auch als die arbeitslose Proletariatsecke Bremens bezeichnen. Arbeitslos, weil die offizielle Zahl bei 27 % liegt. Die steigt natürlich ständig. Arbeitslose haben viel Zeit, sich zu vermehren. Natürlich hat man als Bremerhavener Arbeitsloser auch Verpflichtungen wie kriminell und drogenabhängig zu werden, wenn aber erst mal kein Pfand mehr auf der Straße liegt und man sich nicht gewaschen hat, wird es Zeit für die Kneipe oder die Bänke vor dem Hauptbahnhof, um verwirrten Touristen direkt zu zeigen, wo sie hier gelandet sind.
<Bremerhaven, du Eddel. Geh mal ne Runde um´ Pudding, aber vergiss mol dein Teli nicht. Digger.
Die Kriminalitätsrate ist übrigens die dritthöchste Deutschlands.
Wenn es dir in Berlin mal schlecht geht, dich das Grau und die Anonymität ankotzt, dann fahr nach Bremerhaven. Du wirst niemals wieder so froh gewesen sein, nicht angesprochen zu werden. In Marzahn wirst du dich sicher fühlen. Obdachlose wirst du fortan für die gesunde Mittelschicht halten.
Ich fuhr vor einiger Zeit wieder in die Heimat. Ich kam am Hauptbahnhof an, Bahnsteig Nummer drei. Es gibt dort nur Bahngleis zwei und drei. Die fetten, ungewaschenen Typen mit rosanen Unterhemdenbegrüßten mich freundlich. Als Einheimischer weiß ich mich in diesen Situationen jedoch korrekt zu verhalten. Es gibt Codesätze und Körperausdrücke, mit denen man reingelassen wird. Der Stand muss breitbeinig sein, um deine Männlichkeit auszudrücken. Ob du männlich oder weiblich bist, ist in diesem Fall egal. Anschließend gib etwas von dir, was du vorher am Vormittag auf Sat1 oder RTL gehört hast. Ein weibliches Beispiel, der Emazipation halber:
Fremder: <Ey Süße, willste nicht mit...zu dir?>
Antwort: <Tam werd dir gleich meinen Fotzendübel in deine hässliche Fresse ballern, Hurensohn. Vallah mach nicht so!>
[A. d. Hrsg. : <Mit meiner Mithilfe entschlüpft mein Tampon gleich meinem weiblichen Geschlechtsorgan und wird sich einen Weg in deine orale Zone bahnen. Lass mich bitte in Ruhe.> ]
Es gibt natürlich auch Probleme, die man nur als Einheimischer besitzt. Wie z.B, dass man Leute kennt. Als ich ankam und auf den Bus wartete, traf ich einen völlig betrunken Mittzwanziger, der eine Heckenschere in der Hand hielt. Es war 16:30 und er wollte nach Hause, weil er sein Geld in der Spielothek [A. d. Hrsg. „Spielo“] verloren hatte. Er kannte mich, ich ihn nicht. Zum Glück stieg ich in einen anderen Bus. In der letzten Reihe saßen die "coolen Kids". Cool hieß in diesem Fall betrunken, mit Fussballtrikos bekleidet und verdammt penetrant. Aber ein abwechslungsreiches Sexualleben hatten die Jungs vorzuweisen. Ich weiß das, weil sie sich ununterbrochen darüber austauschten. Ich befand mich währenddessen mittig im Bus. Die Reaktion der Mutter mit dem siebenjährigen Jungen etwas weiter vorn in Bus ließ darauf schließen, dass sie und ihre strahlende Zukunft der Gesellschaft nun ebenfalls im Bilde wären. In meiner Buslinie gab es währenddessen keine Anzeige, welche Station die nächste sein wird. Das braucht man auch nicht, man kennt ja die Strecke. Touristen verirren sich nicht, instinktiv wird ihr Adrenalin sie an die Orte treiben, die für sie geschaffen wurden. Der typische Bremerhavener hält sich davon fern, er kann es sich nämlich nichts leisten und Pfand wird dort nicht stehen gelassen, das wäre unsozial und auf längeren Zeitraum extrem gefährlich. In meinem Bus gab es jedenfalls keine Haltestellenanzeige, dafür jedoch Kameras. Als einheimischer weiß man jedoch, dass diese nicht wirklich aufnehmen. Sie sollen nur abschrecken. Ein Freund von mir wurde einmal im Bus überfallen. Die Tat wurde glücklicherweise nicht festgehalten, wie peinlich wäre das denn auch gewesen? Die Handyaufnahmen der Täter sprengen ja schon fast den Rahmen. So etwas regelt man selbst, man kennt sich ja. Ist man des Nachts in der einzigen Kneipenstraße unterwegs und kommt in eine unglückliche Situationen, dann bringt es nichts, mit dem Handy die Polizei zu rufen. Man kann es gleich abgeben. Oder 25 Minuten warten, dann sind sie sofort zur Stelle. Weiß man als Bremerhavener. Die blockieren lieber Busse, mit denen man nach Hause fährt. Razzia in einem Sonnenstudio. Es wird oft fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die kriminellen in Bremerhaven hauptsächlich Produkte von fehlgeschlagener Integration seien. Das stimmt aber nicht ganz. Es sind meistens Deutsche, die sich das erfundene Bild des kriminellen Ausländers zu Herzen genommen haben und sich von nun an mit fehlender Artikulation und einer unnatürlichen Solariumbräune tarnen (in Norddeutschland wird man nicht natürlich braun).

Aber so schlimm, wie es sich anhört, ist es gar nicht. Es gibt auch kulturelle Einrichtungen, zum Beispiel eine Bowlingbahn. Achtung, Insidertipp: Die Bahnen werden nach links teurer, weil sie nicht so ramponiert sind, wie die rechten (jedenfalls war es vor einigen Jahren so, meine Bowlingkarriere endete an meinem zehnten Geburtstag – ich verlor). Beliebte Ziele sind auch das „Auswanderhaus“ und das „Klimahaus“. Dass ihr im Klimahaus wart, solltet ihr den Einheimischen aber nicht erzählen. Es ist so teuer, dass es sich niemand leisten kann. Ich war selbst noch nie da.
Wenn euch das Oktoberfest langweilt, dann geht zum Biermarathon. Das ist ein Event der Jugend. Sucht euch einen Mitstreiter, geht zum Real und holt euch einen Kasten Bier. Anschließend müsst ihr beim Ertönen des Startsignals zum Deich rennen, das sind ca. sechs Kilometer. Auf dem Weg müsst ihr den Kasten tragen und leeren. Wer als erstes mit leerem Kasten ankommt, gewinnt. Wer kotzt, wird disqualifiziert. Diese Events finden übrigens zu jeder Jahreszeit statt. Ich selbst habe es übrigens einmal auf den zweiten Platz geschafft. Da die Bilanz besser als beim Bowling war, blieb ich bei dieser Sportart – irgendwann muss sich jeder spezialisieren.
Den ersten Platz hat damals ein fetter, ungewaschener Typ mit einem Unterhemd der Farbe Rosa gemacht, wenn ich mich recht entsinne. Er hätte eine Auszeichnung bekommen sollen, weil er Oettinger getrunken hat.
Ihr könnt auch das „Columbuscenter“ besuchen. Das hat den Vorteil, dass ihr es von außen nicht sehen müsst. Oder ihr geht aufs „Havenplaza“, lasst euch aber nicht umskaten. Die Skater können nichts dafür, in der Regel ist es zu gefährlich, die „Skateparks“ (wenn man es so nennen will) zu besuchen. Ich plädiere seit Jahren dafür, dass dort Kameras ohne Film zur Abschreckung aufgestellt werden. Wenn ihr nun lust bekommen habt, diese wundervolle Stadt kennen zu lernen, dann fahrt dort hin. Sprecht mich bitte nur nicht darauf an, das hier ist keine Kleinstadt. Ich liebe Anonymität.