Dienstag, 21. Januar 2014

Wie unromantisch.

Jetzt mal alle Poesie, Romantik und kreative Konstruktion beiseite.
Eben fuhr ich mit der S-Bahn nach Hause und begegnete einem jungen, offensichtlich obdachlosen Mann. Ich saß in der Bahn und er winkte mir lächelnd durch die Scheiben aus dem Waggon vor mir zu. Ich lächelte zurück und winkte ebenfalls. Bei der nächsten Halt wechselte er das Abteil und begrüßte mich mit den Worten „Ich bin der Typ, der dir eben zugewunken hat. Ich dachte, ich sollte dir mal <Hallo> sagen. Hallo. Hab noch einen schönen Abend!“
Dann ging er weiter, um den Leuten hinter mir die „Motz“ zu verkaufen. Er machte einen sehr sympathischen und aufgeweckten Eindruck auf mich. Später, während des Umsteigens, traf ich ihn erneut. Er fragte mich nach etwas Kleingeld. Ich hatte nichts dabei, keinen Cent. Ich habe aufgehört zu rauchen und konnte ihm nicht mal eine Zigarette anbieten, geschweige denn Geld.
Vielleicht liegt es daran, dass ich mein Gewissen nicht erleichtern konnte, oder an einer merkwürdigen Stimmung nach einigen Gläsern Wein, aber mich konfrontiert seit dem eine Frage, die man normalerweise erfolgreich verdrängen kann: Was stimmt nicht mit unserer Gesellschaft, warum leben Menschen bei Minus 5 Grad auf der Straße?
Den Schlamassel auf die Unfähigkeit der Person im Umgang mit den Behörden zu schieben ist bullshit. Jeder, der mal Wallraff gelesen hat, weiß das. Es ist selbst für Studenten schwer genug, eine Wohnung in Berlin zu bekommen – welcher wählerische Vermieter sucht sich da eine Obdachlosen aus? Bürokratie herrscht überall und die Prozeduren, welche man wahrscheinlich bewältigen muss, um eine Wohnung gestellt zu bekommen, möchte ich mir lieber nicht ausmalen. Die gesamte Problematik und unterschiedlichen Meinungen zu diesem Thema lassen sich wohl auf eine Frage herunter brechen: <Schläft jemand freiwillig bei Minus 5 Grad unter einer Brücke?> Ich kann es mir jedenfalls nicht vorstellen.
Aber lassen wir die Behörden mal außen vor. Warum schläft dieser Kerl bei niemandem, warum wird es ihm nicht angeboten? Wegen Misstrauen des Wohnenden. Mir kam wirklich der Gedanke in den Kopf, ob ich ihm anbieten solle, dass er bei mir übernachten könne. Gleichzeitig die Befürchtung bestohlen zu werden. Oder verletzt. Ich habe ja kein Ahnung, was das für einer ist. Außerdem wohne ich nicht allein, das Risiko würde also nicht nur bei mir liegen. Während dieser innere Konflikt in mir tobte, fuhr die Bahn weiter. Damit erledigte sich das Problem.
Was bleibt, ist eine unangenehme Befürchtung. Die Befürchtung, dass unser soziales Miteinander oft von Misstrauen regiert wird. Vielleicht Normalität so aussehen muss. Dass auch für uns in einem gewissen Sinne unsere Halbseligkeiten wichtiger werden, als das menschliche Leben. Wie unromantisch.