Eben fuhr ich mit der S-Bahn nach Hause
und begegnete einem jungen, offensichtlich obdachlosen Mann. Ich saß
in der Bahn und er winkte mir lächelnd durch die Scheiben aus dem
Waggon vor mir zu. Ich lächelte zurück und winkte ebenfalls. Bei
der nächsten Halt wechselte er das Abteil und begrüßte mich mit
den Worten „Ich bin der Typ, der dir eben zugewunken hat. Ich
dachte, ich sollte dir mal <Hallo> sagen. Hallo. Hab noch
einen schönen Abend!“
Dann ging er weiter, um den Leuten
hinter mir die „Motz“ zu verkaufen. Er machte einen sehr
sympathischen und aufgeweckten Eindruck auf mich. Später, während
des Umsteigens, traf ich ihn erneut. Er fragte mich nach etwas
Kleingeld. Ich hatte nichts dabei, keinen Cent. Ich habe aufgehört
zu rauchen und konnte ihm nicht mal eine Zigarette anbieten,
geschweige denn Geld.
Vielleicht liegt es daran, dass ich
mein Gewissen nicht erleichtern konnte, oder an einer merkwürdigen
Stimmung nach einigen Gläsern Wein, aber mich konfrontiert seit dem
eine Frage, die man normalerweise erfolgreich verdrängen kann: Was
stimmt nicht mit unserer Gesellschaft, warum leben Menschen bei Minus
5 Grad auf der Straße?
Den Schlamassel auf die Unfähigkeit
der Person im Umgang mit den Behörden zu schieben ist bullshit.
Jeder, der mal Wallraff gelesen hat, weiß das. Es ist selbst für
Studenten schwer genug, eine Wohnung in Berlin zu bekommen –
welcher wählerische Vermieter sucht sich da eine Obdachlosen aus?
Bürokratie herrscht überall und die Prozeduren, welche man
wahrscheinlich bewältigen muss, um eine Wohnung gestellt zu
bekommen, möchte ich mir lieber nicht ausmalen. Die gesamte
Problematik und unterschiedlichen Meinungen zu diesem Thema lassen
sich wohl auf eine Frage herunter brechen: <Schläft jemand
freiwillig bei Minus 5 Grad unter einer Brücke?> Ich kann es mir
jedenfalls nicht vorstellen.
Aber lassen wir die Behörden mal außen
vor. Warum schläft dieser Kerl bei niemandem, warum wird es ihm
nicht angeboten? Wegen Misstrauen des Wohnenden. Mir kam wirklich der
Gedanke in den Kopf, ob ich ihm anbieten solle, dass er bei mir
übernachten könne. Gleichzeitig die Befürchtung bestohlen zu
werden. Oder verletzt. Ich habe ja kein Ahnung, was das für einer
ist. Außerdem wohne ich nicht allein, das Risiko würde also nicht
nur bei mir liegen. Während dieser innere Konflikt in mir tobte,
fuhr die Bahn weiter. Damit erledigte sich das Problem.
Was bleibt, ist eine unangenehme
Befürchtung. Die Befürchtung, dass unser soziales Miteinander oft
von Misstrauen regiert wird. Vielleicht Normalität so aussehen muss.
Dass auch für uns in einem gewissen Sinne unsere Halbseligkeiten
wichtiger werden, als das menschliche Leben. Wie unromantisch.