Mittwoch, 16. Juli 2014

Wettkampf der gemischten Gefühle

Zwischen Nationalstolz und intuitiver Ablehnung

Ein guter Freund von mir ging kürzlich für ein Jahr nach Australien. Seine Verabschiedung fand im Wedding statt. Sie war am Abend des achten Julis. Während des 7:1 Spiels gegen Brasilien. Vor Anpfiff gehen wir zusammen zum Späti an der Ecke, das letzte Bier kaufen. Im Erdgeschoss lehnt ein älteres Ehepaar aus dem Fenster. Eine einzelne Vuvuzela-Seela ertönt, von der Vorfreude auf das Spiel angetrieben. „Ruhe da draußen!“ brüllte die Frau, schnippt ihr aufgerauchte Zigarette auf die Straße und knallt das Fenster zu. Extreme prallen aufeinander. Bendix und ich sind auch nicht wirklich Fußball-Affin, aber wir haben einen lockereren Umgang gefunden. Auch dieser Weg war steinig.
Ein paar Tage zuvor war ich beispielsweise bei Freundinnen in der WG, Deutschlang gegen Algerien lief. „Seid ihr für Deutschland oder Algerien?“, fragte ich unschuldig. Das war keine gute Idee. In Deutschland sind die Fussballfans zur Wm meistens für Deutschland. Ich treffe auf Unverständnis.
Deutschland – das sind wir alle!“ sagt der Fernseher. „Du bist Deutschland – ob du willst oder nicht“ sagt mein Mp3-Player.
Im Wedding haben wir mittlerweile unser Bier geöffnet, unterhalten uns. Bendix´s Freundin versorgt uns mit Pfannkuchen. Selbst Abschiede haben Vorteile. Plötzlich ertönt ein Ohrenbetäubender Lärm von der Straße. Wahrscheinlich ein Tor für Deutschland. Ich lege Zimt auf meinem Pfannkuchen nach. Minuten später beginnen die Nachbarn, Böller auf dem Fenster zu werfen. Vor der Fußballkneipe gegenüber wird getanzt. Noch ein Tor? Das ging schnell.
Kurz nach dem Abebben donnert es erneut. Scheint was besonderes zu sein, dieses Spiel. Möglicherweise sehenswert. Wir üben uns im Sensationstourismus und stellen ein altes Netbook in die Küche. Das Bild ist winzig und der Ard-Stream ruckelt. Irgendwann bemerken wir, dass wir offensichtlich zwei Minuten hinterherhinken. Draußen läuft die Apokalypse und auf dem Bildschirm passiert nichts. Es wird ein Spiel für uns. Wir feiern erst, wenn es bei uns angekommen ist. Am Ende steht fest: Deutschland kommt ins Finale.
Ich drücke meinen Freund ein letztes mal und fahre nach Hause.

<Das Finale>

Ich wache um 17 Uhr auf. Der Abend nach unserer Einweihungsparty. Das Konfetti wurde schon zusammengefegt. Mein Zimmer ist noch voll davon. Mein Kopf fühlt sich auch danach an. Ich setze mich in die Küche und trinke Wasser. Viel Wasser. Schlafen kann ich erst mal nicht. Dann dämmert es mir. Heute ist Finale.
Freunde gehen zum Schauen in eine Kneipe, nur ein Stück meine Straße hinunter. „Warum nicht“, denke ich. Dreißig Minuten vor Anpfiff komme ich an. Die meisten Plätze sind reserviert. Auf einer Fensterbank ist noch ein Plätzchen frei. Ich kann den gesamten Raum überblicken. Viele Trikots sind zu sehen. Es ist eine Hipster-Kneipe. Die bröckelnden Betonwände liegen blank, alles ist retro. Ein komisches Bild, mit diesen Fußballfans. Die Stimmung ist gut, lachende Leute, es wird angestoßen und zugeprostet. Manuel Neuer wird das erste Mal gezeigt, die Leute klatschen. Als die Argentinier gezeigt werden, ertönt „Ihr sein nur ein Rinderzuchtverein, Rinderzuchverein...“.
Mein Kater macht mir zu schaffen. Ich unterhalte mich kaum. Zum Anpfiff bestelle ich ein Bier. Fühlt sich komisch an, das hier. „Fußball erschafft eine Gemeinschaft, soll verbinden. Du bist Teil davon.“ halte ich mir vor. Aber es fühlt sich nicht so an. Ich grenze mich ab. Schade. Ich mag Fußball, treibe selbst viel Sport und sehe Athleten gern gegeneinander antreten. Ich fiebere mit. Nur die Leidenschaft scheint mir zu fehlen.
In der Halbzeit laufen Nachrichten. Der Ton ist aus, stattdessen Musik, die entfernt an Elekto-Swing erinnert. Ein Fan steht mit seinem weißen Trikot in der Projektionsfläche des Beamers. Bilder aus dem nahen Osten fließen über sein Oberteil und die Wand. Bombenangriffe. Weinende Menschen. Ein hässliches Gesamtkonstrukt. Der Swing frohlockt weiter. Ich sehe mich in dem halbvollen Raum um. Die meisten vertreten sich draußen die Beine, ein paar sind sitzen geblieben. Auch sie realisieren das Szenario. Die bemalten Gesichter sind bedrückt.
Zur zweiten Halbzeit ist die Atmosphäre ausgewechselt. Ich trinke inzwischen mein drittes Bier. Kater-Adé. Gesellschaftsfähigkeit aus der Flasche. Der Ball rollt. Ich bin von den Leistungen der Spieler beeindruckt. Ein schönes Spiel. Während der Verlängerung knistert die Spannung spürbar. Sie hat sich 113 Minuten lang aufgeladen. Als das Tor fällt, bricht die Apokalypse los. Die Leute springen, schreien und umarmen sich, Tische fallen um, Flaschen gehen zu Bruch. Es hört überhaupt nicht mehr auf. Vollkommene Euphorie durchdringt den Raum. Der Kommentator ist für den Rest des Spiels nicht mehr zu hören, „Deutschland, Deutschland, Weltmeister!“-Gesänge füllen den Raum. Beim Abpfiff steigert es sich erneut.
Ich lächle und sitze auf meiner Fensterbank. Ich bin der Einzige, der noch sitzt. Ich freue mich für diese Leute, für die ausgelassene Stimmung, für die Freude am Weltmeistertitel. Wirklich.
Man muss nicht alles politisieren. Dieses Fußballspiel ist das Konzert einer Band, für die alle Feuer und Flamme sind. Leider kommen ihre Töne nicht zu mir durch. Der erhobene Zeigefinger und die Frage, ob die Fans meinen, dass ihr Team besser spielt, wenn sie die Leinwand anbrüllen, kann man sich sparen. Manchmal zählt die Stimmung. Nur weil man etwas nicht versteht, muss man es nicht verabscheuen. Ich freue mich trotzdem darauf, wenn die Nationalflaggen wieder abgehängt werden. Wenn der Shit-Storm in Kommentarform wegen des „Ravensburg statt Rio“ Artikel gegen die Taz-Redakteurin ihr Ende findet. Schmiert euren Senf lieber auf eure Bratwürste. Feiern ist ok. Kritik erwünscht.

Ruhe da draußen!“