Mittwoch, 15. November 2017

Zeistgeist

Die meisten Menschen glauben nicht an Gespenster. Jedenfalls glaube ich, dass die meisten Menschen, gegeben des Falles, man würde sie auf der Straße ansprechen und sie nach der Existenz von Gespenstern fragen, selbige verneinen würden.
Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass es bei mir spuckt. Früher war mir sein Dasein nicht so bewusst, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto eher komme ich zu dem Ergebnis, dass seine omnipräsente Anwesenheit nicht zu leugnen ist. Besonders Nachts treffe ich jüngst immer häufiger auf diesen Zeitgeist.
Zugegeben, er begegnete mir auch nicht einfach so. Er hängt sich immer an Ereignisse - ihn ohne sie auszumachen zu wollen ist ein vergebliches Unterfangen. Viele Menschen haben das Bedürfnis seine Anwesenheit mitzuteilen. Bob Dylan. #forthetimestheyarea-changin´
Oft verliert man Dinge und wird sich plötzlich seiner Anwesenheit bewusst. Menschen sind negative Geschöpfe. Selten halten sie einen Moment inne und gedenken ihrer derzeitig allzu guten Lage. Aber oft jammern sie und klagen an, wenn es die Zeit mit ihnen gerade nicht gut meint.
Ich habe sie jüngst verloren. Und ich meine nicht die Zeit. Und dann wurde mir wieder seine Anwesenheit bewusst. Der Zeitgeist. Er sorgt dafür, dass Momente funktionieren. Das kann banal sein: Ich hatte hunger und da war etwas zu essen. Oder bedeutungsvoll: Ausgerechnet an dem Tag, an dem ich eine neue Episode meines Lebens begann, traf ich auf sie. Wer hat dieses Ereignis ausgerechnet? Der Zeitgeist. Wann macht er mir das Bewusst? Mitten in der Nacht, wenn er neben meinem Bett steht und mich aufweckt.
Sein Dasein hat viele Entitäten, er konstituiert sich für uns meist in Form von Erinnerungen. Er ist das Passen des Moments, dieses flüchtige Erscheinen. Er war als wir beide gleichsam orientierungslos waren, diese zusammenfließende Planlosigkeit. Dein nach vorn gerecktes Kinn, deine zurückgezogenen Schultern, die Ellenbogen hinter deinem Torso und die geöffneten Handflächen der unversöhnlichen Gesellschaft entgegen haltend . "Was denn, Arschloch?" frugen deine zusammengekniffenden Lippen bewegungslos. Ich pflichtete dir bei. Zuerst gibt es oft gemeinsame Ablehnung.
Aber schnell merkt man dann, dass im Differenzprinzip des Daseins eine Ablehnung gleichzeitig eine Zustimmung ist. Sich auf Ablehnung zu einigen ist leicht, #partnerincrime. Die selben Schlüsse aus der folgenden Zustimmung zu ziehen ist der wahre Kunstgriff und das weit größere Projekt. Man hat auch meistens mehr als ein Projekt zur Zeit an den Hacken.
Der Zeitgeist gibt mir zu verstehen, dass es nie mehr eine so heroische Ablehnung wie die unsere geben wird. Nicht in diesem Leben, nicht so krass, so kompromisslos. Dafür sind wir beide zu alt geworden. Immerhin sind wir ein ganzes Stück gemeinsam gealtert. Wert und Bewusstsein festigt sich nicht von heute auf morgen.
Nietzsche beschreibt unseren Prozess in den drei Verwandlungen. Ich bin sicher, dass er es für uns geschrieben hat. Für unseren Zeitgeist, der sich vom genügsamen Kamel zum selbstbestimmten Löwen entwickelte, um letztendlich hier zu landen: Unschuldige Kinder.
Frei von richtender Gesellschaft gibt es keine Schuld. Wir sind keine Kamele, wir tragen keine Schuld. Und wir, wir stellen irritiert fest, dass unsere Neuanfang nicht zueinander passen will. Meine Welt hab ich mir gewonnen, deine Welt hast du dir gewonnen. Nur die unsere ging unter.
Mit den Worten "Wir waren echt gut." weckt mich der Zeitgeist morgens um fünf. "Komm trink auf uns. Den guten Whiskey." Und ich trinke auf uns. Nicht um zu vergessen. Sondern für die Geste.
for the times, they are a-changin´.


Dienstag, 7. November 2017

Die wiederentdeckte Einfachheit: Calisthenics, der beste Sport.

Was für eine reißerische, kurzsichtige Überschrift. Ich kann den emporsteigenden Groll der badmintonbegeisterten Rennradcrossfitcommunity schon erahnen. Haltet ein! Natürlich ist dieses einleitende Statement nur bedingt gültig. Bin ich eine downhill-slidende wingsuit-tragende Adrenalinabhängige, ist Calisthenics nicht meine erste Sportwahl. So sehr ich Relativierungen auch verabscheue; ich scheine in diesem Artikel gezwungen zu sein, explizit darauf aufmerksam zu machen, dass Calisthenics für mich der beste Sport ist. "Aber", fragt sich der treue Poetikette-Leser Hans-Peter nun sicherlich: "Warum ist das so? Und viel wichtiger: Was ist eigentlich Calisthenics?!" Die Antwort splitte ich in zwei Teile: Zum einen die körperlichen Aspekte, zum anderen die geisten Aspekte. Mehr Spiritualität als im zweiten Abschnitt wird es auf diesem Blog nie geben. Entschuldigung, Versprochen. 


Die körperlichen Aspekte


Die Fitnesslandschaft hat sich in den letzten Jahren ausdifferenziert. Früher war der Satz "Ich mache Fitness" meist ein Synonym für "Ich gehe ins Fitnessstudio". Diese Vormachtsstellung haben die mit Geräten beladenen, von stummen Bewegungen gefüllten Räumlichkeiten verloren. Ich will nicht bestreiten, dass die meisten Menschen wahrscheinlich gerade in den kälteren Jahrenzeiten dazu tendieren, ihren Sport in gewärmten Räumlichkeiten zu treiben. Trotzdem haben sich einige Alternativen zu diesen Schweißfabriken gesellt. Freelethics und Calisthenics beispielsweise. Freelethics ist in erster Linie ein ausgeklügelt-forderndes Fitnessprogramm in Form einer App. 
Calisthenics ist nach meiner Auffassung die detaillierte Neuinterpretation des guten, alten Trimm-Dich-Pfades. Mit dem Unterschied, dass diese einfachen Geräte auf einem Platz gesammelt wurden. 




Die Hanteln aus dem Fitnessstudio werden bei den Übungen vorerst durch das eigene Körpergewicht ersetzt. Unterschiedliche Bewegungsausführungen bestimmen den Schwierigkeitsgrad und die Intensität der einzelnen Übungen. Dabei macht es zu Beginn schon  einen Untschied, wie ich die Stange bei den Klimmzügen greife: Sehe ich meinen Handrücken oder meine Fingernägel beim Festhalten? 
Ist man zu Beginn mit Klimmzügen überfordert, kann man sich von sogenannten "Resistance Bands" unterstützen lassen. Diese dicken Gummiebänder kosten kaum einen Monatsbeitrag im Fitnessstudio und sind äußerst wirkungsvolle Helfer: Auf der einen Seite werden sie um die Klimmzugstange geschlungen, auf der anderen stellt sich der/die Trainierende in die unten baumelnde Schlaufe. Letztendlich ist es schlicht ein langes Gummieband, das einem etwas Körpergewicht abnimmt, wenn man nach oben gezogen wird. 
Ich möchte an dieser Stelle keinen ausgeklügelten Trainingsplan formulieren. Das Internet (insbesondere Youtube) ist voll von Trainingsanleitungen unter dem Stichwort Calisthenics oder Bodyweighttraining. Es reicht klarzustellen, dass man seinen ganzen Körper effektiv trainieren kann. Dass man möglicherweise etwas weniger Muskulatur als beim Bodybuilding aufbaut, weil man Muskeln in den Übungen nicht so exakt von einander sepatieren kann ("Ich reize jetzt nur und ausschließlich meinen Bizeps" = schwer mit Klimmzügen), sei der Vollständigkeit halber erwähnt. 
Gleichzeitig kann diese vermeintliche Schwäche jedoch auch als Stärke interpretiert werden: Meine Arme funktionieren als zusammenwirkendes System, die Muskulatur ist in ihrer Ausprägung nicht auf Ästhetik, sondern auf Funktionalität ausgelegt. Mein Trainingsgewicht ist mein Körpergewicht. Und das variiert je nach Zustand. Muskeln wiegen ja bekanntlich mehr als Fett. 
Natürlich ist Gewicht bei der Muskulaturausreizung am einfachsten im Studio durch Hantelscheiben dosierbar. Und eventuell kriege ich meinen Bizeps besser dabei ausgereizt. Was mich persönlich jedoch an Calisthenics begeistert, ist der Rahmen des Stattfindens, die befreiende Wirkung des Sports in der Kulisse des Platzes. 
Bis heute kommt es mir absurd vor, Sport in einer Halle zu treiben, den ich auch draußen vollziehen könnte. Wenn ich Sport treibe verbrennt mein Körper Kohlenhydrate oder Fett, um Energie für die Bewegungen zu gewinnen. Mir wird warum, ich schwitze. Egal bei welchen Temperaturen. 



Die geistigen Aspekte

Ich persönlich treibe Sport um den Kopf frei zu kriegen. Bei schwiergen Übungen brauche ich Konzentration. Meine Gedanken sind auf meinen Körper fokussiert. Ob man nun von Leib und Seele, von Körper und Geist oder von Materie und Bewusstsein sprechen möchte: Bei einem guten Training rückt diese Grenze so weit in den Hintergrund, wie es (mir) nur möglich ist. Motivation und geistiger Fokus spielen eine weit unterschätze Rolle im Sport. Die Fähigkeit in den eigenen Körper, in die eigenen Muskelpartien hineinfühlen zu können und das Gefühl zu haben, die physischen Grenzen psychisch weiter auszuloten ist für mich eine unersetzbare Empfindung. Hier ist dem Ausdruck durch Begriffen eine Grenze gesetzt, denn eben um die Verschmelzung dieser Entitäten geht es.
Oft habe ich gegen Ende des Workouts diesen Moment des Glücks; wie ein plötzlicher Serotoninausstoß. Der Resetbutton wurde gedrückt. Mit dem Serotonin verändert sich die Weltwahrnehmung.
Die Kulisse des Platzes ist ideal für diese Momente. Ich spüre das Wetter, ohne dass es mir ungemütlich werden würde (Verbrennung und so). Feiner, kalter Sprühregen, den man kaum sehen kann auf warmen Wangen. Die winzigen Wassertropfen formieren sich an den Sammelpunkten der Blätter zu großen Tropfen, die hörbar auf dem Weg krachen. Alles ist lauter. Vögel geben immer Geräusche von sich, nicht nur im Frühling. Wind weht durch die herbstlichen Kronen und die klammen Blätter reiben sich geräuschvoll aneinander. Beim Ausatmen nehme ich den Ansatz einer Kondenswolke wahr. Aber dafür ist es noch nicht kalt genug, es dauert sicher noch einige Wochen. Ich fühle mich im Einklang mit mir selbst. 
Ich kann nicht bestreiten, dass diese Zeilen ein gewisses Maß an Spiritualität aufweisen. Als Philosphiestudent kommt dieser Begriff fast einem Schimpfwort gleich, zumeist angepriesen als Teil von oberflächlich-fernöstlichen new-age Lifestyleydaptionen. Ich denke, dass man Spiritualität nicht kaufen kann. Man kann sie auch nicht einfach aus Kulturen oder ganzheitlichen Lebensperspektiven extrahieren. Man erfährt sie. 

Abschließend..

lässt sich sagen, dass ich grundsätzliche eher ein geselliger Typ bin. Ich lebe in einer WG und pflege generell viele soziale Kontakte. Die Einsamkeit auf dem Platz bildet für mich persönlich [insbesondere im Winter] die Ausnahme. Sie ist die Quality-Time, die ich mit mir selbst verbringe. Ich kann sie mir nur schwer umringt von einer Fitnessstudiomeute vorstellen. Aber natürlich liefere ich hier keine Blaupause für das Treiben und Erfahren von Sport, sicherlich gibt es viele unterschiedliche Varianten des Erlebens. Trotzdem kann ich Calisthenics nur empfehlen. Egal in welcher Lebenslange ich mich befand, welche Sportart ich auch immer zusätzlich  betrieben habe, Calisthenics bildete immer meine Basis.

Dienstag, 31. Oktober 2017

Sentimentalität? Pah!

Ignoriert man das Schreiben eines Blogs für drei Jahre, merken die übriggeblieben Nichtmehrleser*innen womöglich, dass man mehr getan hat, als <mal eben> Zigaretten zu holen. Insbesondere, wenn man als Nichtraucher zurückkehrt. 

Es muss also ein ´vor-pepp-strotzender-OMG-ihr-werdet-euch-nicht-vorstellen-können-was-mir-in-den-letzten-drei-Jahren-(plötzlich!)-passiert-ist-Artikel´ her. Was man aber dann jedoch liefert ist höchstens ein ´himmel-wie-die-zeit-vergeht-...-ähm-guess-whos-back-Artikel´. Tolle Wurst.
Auch mit einem herausgegeben Gedichtband kann ich nicht werben. Oder mit einer Poetry-Slam-Live-DVD. Oder einem Buch. Ich Versager. 

Stattdessen führe ich das absolute Klischeeleben eines alternden Großstadtmittzwanzigers. Vervollständige Folgende Attributaufzähllung: 

Studium bald durch, Gastro/Gelegenheitsjob, Medien- und Politikinteressiert. Feminismus, Fahrrad fahren macht Spaß. Veganismus, Polyamourösität, .....[Richtig: Raufasertapete.] Schnarch

Die letzten drei Jahre waren gut. Insgesamt. Falls etwas so facettenreiches überhaupt so generell bewertbar ist. Immerhin besteht das eigentliche Leben aus Situationen. Und Situationen bestehen aus vielen Details. Und "die letzten drei Jahre waren gut" ist eine sehr abstrakte Aussage. Und Abstraktion ist die Repression von Details, sagt Luhmann. Also keine Ahnung wie die letzten drei Jahre waren. Detailliert wahrscheinlich. 
Fast hätte mich ein Anflug von Senimentalität gepackt. So in Gedanken an die verstriche Zeit. Dinge, die ich in den letzten drei Jahren getan habe: 

  1. Zu viele, um sie in eine Liste zu schreiben. 

Ich hab mich vielleicht ein bisschen verändert. Ihr euch bestimmt auch. Wird auch so weiter gehen. Das ist kein Grund, gleich sentimental zu werden. Denn das Leben besteht aus diesen wundervoll lütschen Details. (Oder aus einer Abfolge von Augenblicken, wenn man Forest Whitaker Stimme aus dem Off in ´Ghost Dog´ glauben darf.) 
In Zukunft will ich wieder etwas mehr schreiben, dann geht es hier etwas fokussierter zur Sache. Themenbezogener. 
Eine neue Chautauqua in medialen Gefilden. 

(wie aufregend) 

Montag, 17. November 2014

geisterstunden



gedanken, hört auf zu rasen. ich will schlafen.
hab genug gelitten. darf ich um ruhe bitten?
will nichts mehr wissen. niemanden vermissen
auf erkenntnis verzicht ich. reflexion will ich nicht.

tagsüber durchhängen. nächte nie durchpennen.
keine ruhephase. weil ich vor mir keine ruhe habe.
ständige kaffeetassen. beginne kaffee zu hassen.
muss endlich  einschlafen. oder mehr zeit haben.

hab mir einen geist erfunden. in geisterstunden.
er macht, dass ich unbequem liege. krise.
stirn zerknittert. gesicht verbittert.
problem am bewusstsein: bewusst sein. 
 

Montag, 4. August 2014

Antilopengang und Nmzs - ein trauriges Tribut

„Die Gedanken sind frei und nur du selbst kennst deine. In seinem eigenen Kopf ist für sich jeder alleine. Und mittlerweile passiert um mich rum so viel Scheiße - Hurra endlich hab ich etwas, worüber ich schreiben kann.“

Seine eigenen Gedanken musikalisch wieder zu finden passiert selten. Obwohl es Millionen von Künstlern, Alben und Ansichten gibt, existiert nur eine Handvoll von wirklich passenden Klängen und Aussagen. NMZS war für mich eine dieser Ausnahmefälle.

Den Düsseldorfer hörte ich vor einigen Jahren das erste Mal in dem beinahe-schon Klassiker „Fick die Uni“. Er und der Rest seiner Crew mischten mit dem Track die Studenten und deren inszenierte Lebensweise aufs Passendste auf. Der Hauptbezugspunkt sind Klischees, in ein paar Punkten der Aufzählung findet sich wahrscheinlich jeder wieder.
Diese vor Arroganz, Spott und Ironie triefende Musik lernte ich mit dem ersten Album lieben. Spastik Desaster hörte ich rauf und runter, bis jede einzelne Line sich in mein Langzeitgedächtnis gefressen hatte. Intelligente Absurdität, gepaart mit einem Maß Aggressivität und (Selbst-)Witz ist eine herrliche Mischung. Authentizität erzeugt durch den selbst-gestellten, augenscheinlichen Anspruch, keinen Anspruch zu haben – außer dem eigenen, scheinbar willkürlichen. Genau das ziehen sie durch, die persönliche Note der Antilopengang findet sich in jedem Album wieder. Versuche der Interpretation sind unerwünscht und werden belächelt, wie im Track „Kommentarfeld“ klar gestellt wird.
(„Du bist wirklich sehr belesen, sehr klug, sehr schlau. Keiner peilt was wir meinen, aber du hast es durchschaut – darum kannst du dir auch denken wie wir denken oder handeln, schreib es in ein Kommentarfeld „Ich hab es verstanden“).
Die Antilopengang bestand bis 2013 aus Danger Dan, Panik Panzer, Koljah Kolerikah und NMZS. Letzterer nahm sich vergangenes Jahr das Leben. Daraus folgte eine für die Gang bisher noch nicht dagewesene Aufmerksamkeit in den Medien. Ich bin mir sicher, dass sie damit einen persönlichen, schweren Schlag erlitten haben. Dennoch reagieren sie einer provokativen Nüchternheit, die ihresgleichen sucht. Nachdem Prinz Pi auf irgendeinem Konzert die Antilopengang als erste Crew auf dem Splash-Festival bekannt gab und das mit „...noch nie gehört, aber dürfen auf dem Spash spielen“ kommentierte, schrieben sie kurzerhand einen stichhaltigen Disstrack  gegen Pi. Abgesehen von vielen adaptierten Lines des Prinzen, die auf seinen Imagewechsel und seine fragwürdige Authentizität abzielte, hallte es: „...aber wieso kennt Friedrich denn nicht Antilopen, jeder kennt uns, wir sie die mit dem Toten. Das ist unser Bonus, deshalb dürfen wir beim Splash spielen, darum haben Hip-Hop Medien jetzt Interesse.“
Ein paar Monate vorher, kurz nach dem Tot von Nmzs, veröffentlichten sie sein letzte Soloalbum post mortem: Der Ekelhafte. In Anlehnung an „Der Ekel“ von Jean Paul Sartre zeigte Nmzs ein letztes Mal seine Perspektive auf die Welt. In Sartres Buch geht es um ein Individuum, das eine ständig wiederkehrende Emotion erlebt: den Ekel. In Nmzs  vorherigen „Aschenbecher“- Album erlebt man einen jungen, von Nervosität, Angst und Panik geplagten Künstler, welcher der Welt offensichtlich mit Ablehnung entgegentritt. Wer schon einmal von Panikattacken geplagt wurde, dem sprechen Tracks wie „Ich hab mich dran gewöhnt“ aus der Seele. Wer seine Umgebung unverschleiert und ohne Schönmalerei  in Augenschein genommen hat, der findet die vollkommene Absurdität der Gesellschaft in „So ungefähr“ wieder. Zusammen mit Danger Dan entstand dieses vom Nihilismus durchzogene Album. Es beschreibt die Sinnlosigkeit des Daseins so unverblümt, wie kein zweites.
Durch das Bewusstsein, das die facettenreiche Gesellschaft etwas inszeniertes darstellt, dem man offensiv entgegentreten sollte und der Beschreibung des eigene Ohnmachtsgefühls bewirkt es eine gnadenlose Authentizität frei vom Mainstream. Beim Hören bekomme ich nicht das Gefühl, dass hier etwas Schönes erschaffen werden sollte – sondern etwas Ehrliches.
Ähnlich geht es in dem schon erwähnten post mortem Album zu. Das Intro zeigt einen willentlich dem Verfall gerichteten Menschen, der mit dem Blendercharakter der angeblichen Kunst nichts anzufangen weiß „Fick auf eure Kunst, eure Kunst ist nur ein Wort, ich erschieß mich im Museum und krieg hunderte Awards. Zieh mich aus dem Dickicht und bin halb Mensch, halb Kippenstummel...“. Die dreiteilige „1984“ Reihe skizziert NMSZ ganze Jugendgeschichte im Schnelldurchlauf. „Zimmer aus Papier“ und „Siegen“ beschreiben Familienverhältnisse und das Leben in einer abgelehnten Stadt. Humorvoll verpackt, wohl möglich überspitzt, aber klare, negative Erfahrungen.
Hervor sticht hier, dass es einen sehr persönlichen Charakter besitzt und nicht zwingend ein Generation-Portrait erschaffen will. Viel mehr hagelt es Kritik gegen „falsche“ Lebensstile, gegen das aufgesetzte Scheinleben. Nmzs grenzt sich ab, wird „Nie so wie Ihr – eher tätowiere ich mir <keep it real> auf die Stirn“. Die homogene Gesellschaft und der ironische Mob ist verabscheuungswürdig, seine Stadt besetzt von „Hipster Hitlern“. Es ist schwer sich selbst in eine Welt einzuordnen, die man ablehnt. In einer mannigfaltigen Welt, in der Gut und Böse nicht mehr klar definiert zu sein scheinen. Die eigene Stadt erscheint denkbar unbequem, in dem „Düsseldorf“ Skit erzählt eine junge Stimme schlicht und ergreifen, dass Düsseldorf mies sei, dort Junkies leben würden, es ganz klein und grässlich sei. Es wirkt wie eine Abrechnung.

„Und es ist ganz normal, wenn du ständig Ekel empfindest,
mal kommt der Ekel von außen, mal kommt der Ekel von innen,
und wenn irgendwann alles um  dich herum ekelhaft wird,
brauchst du dich nicht zu wundern, wenn du selber ekelhaft wirst.“

In Sartres Buch überkommt den Protagonisten der Ekel aufgrund der Zufälligkeit und der Sinnlosigkeit seiner Existenz. Nietzsche benutzt den Begriff u.a. für den Tätigen und Mächtigen, der Gefahr läuft, unter seinen zappelnden, geistlosen Zeitgenossen den Ekel zu empfinden. Wenn auch aus einem anderen Kontext, scheint es auch in diesem Bezug unendlich passend:

Ohne Beschönigung des Ausdrucks gesprochen: die Masse des Einströmenden ist so groß, das Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig, »zu scheußlichen Klumpen geballt«, auf die jugendliche Seele ein, daß sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß. Wo ein feineres und stärkeres Bewußtsein zugrunde lag, stellt sich wohl auch eine andre Empfindung ein: Ekel. Der junge Mensch ist so heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen…“

Ein Jahr nach dem Tod von Nmzs veröffentlichte Koljah einen Track namens „Über den Schutzpatron des Husaren“. Er beschreibt seinen Freund aus seiner Perspektive, in der Hook verweist er auf die Unsterblichkeit von Nmzs.
Damit hat er Recht.

Alle Alben gibt es übrigens zum kostenlosen Download.

Meine Mutter hat damals geweint, als John Lennon erschossen wurde. Bisher konnte ich das nicht nachvollziehen. Und dann kam der 22.03.2013. 

Mittwoch, 16. Juli 2014

Wettkampf der gemischten Gefühle

Zwischen Nationalstolz und intuitiver Ablehnung

Ein guter Freund von mir ging kürzlich für ein Jahr nach Australien. Seine Verabschiedung fand im Wedding statt. Sie war am Abend des achten Julis. Während des 7:1 Spiels gegen Brasilien. Vor Anpfiff gehen wir zusammen zum Späti an der Ecke, das letzte Bier kaufen. Im Erdgeschoss lehnt ein älteres Ehepaar aus dem Fenster. Eine einzelne Vuvuzela-Seela ertönt, von der Vorfreude auf das Spiel angetrieben. „Ruhe da draußen!“ brüllte die Frau, schnippt ihr aufgerauchte Zigarette auf die Straße und knallt das Fenster zu. Extreme prallen aufeinander. Bendix und ich sind auch nicht wirklich Fußball-Affin, aber wir haben einen lockereren Umgang gefunden. Auch dieser Weg war steinig.
Ein paar Tage zuvor war ich beispielsweise bei Freundinnen in der WG, Deutschlang gegen Algerien lief. „Seid ihr für Deutschland oder Algerien?“, fragte ich unschuldig. Das war keine gute Idee. In Deutschland sind die Fussballfans zur Wm meistens für Deutschland. Ich treffe auf Unverständnis.
Deutschland – das sind wir alle!“ sagt der Fernseher. „Du bist Deutschland – ob du willst oder nicht“ sagt mein Mp3-Player.
Im Wedding haben wir mittlerweile unser Bier geöffnet, unterhalten uns. Bendix´s Freundin versorgt uns mit Pfannkuchen. Selbst Abschiede haben Vorteile. Plötzlich ertönt ein Ohrenbetäubender Lärm von der Straße. Wahrscheinlich ein Tor für Deutschland. Ich lege Zimt auf meinem Pfannkuchen nach. Minuten später beginnen die Nachbarn, Böller auf dem Fenster zu werfen. Vor der Fußballkneipe gegenüber wird getanzt. Noch ein Tor? Das ging schnell.
Kurz nach dem Abebben donnert es erneut. Scheint was besonderes zu sein, dieses Spiel. Möglicherweise sehenswert. Wir üben uns im Sensationstourismus und stellen ein altes Netbook in die Küche. Das Bild ist winzig und der Ard-Stream ruckelt. Irgendwann bemerken wir, dass wir offensichtlich zwei Minuten hinterherhinken. Draußen läuft die Apokalypse und auf dem Bildschirm passiert nichts. Es wird ein Spiel für uns. Wir feiern erst, wenn es bei uns angekommen ist. Am Ende steht fest: Deutschland kommt ins Finale.
Ich drücke meinen Freund ein letztes mal und fahre nach Hause.

<Das Finale>

Ich wache um 17 Uhr auf. Der Abend nach unserer Einweihungsparty. Das Konfetti wurde schon zusammengefegt. Mein Zimmer ist noch voll davon. Mein Kopf fühlt sich auch danach an. Ich setze mich in die Küche und trinke Wasser. Viel Wasser. Schlafen kann ich erst mal nicht. Dann dämmert es mir. Heute ist Finale.
Freunde gehen zum Schauen in eine Kneipe, nur ein Stück meine Straße hinunter. „Warum nicht“, denke ich. Dreißig Minuten vor Anpfiff komme ich an. Die meisten Plätze sind reserviert. Auf einer Fensterbank ist noch ein Plätzchen frei. Ich kann den gesamten Raum überblicken. Viele Trikots sind zu sehen. Es ist eine Hipster-Kneipe. Die bröckelnden Betonwände liegen blank, alles ist retro. Ein komisches Bild, mit diesen Fußballfans. Die Stimmung ist gut, lachende Leute, es wird angestoßen und zugeprostet. Manuel Neuer wird das erste Mal gezeigt, die Leute klatschen. Als die Argentinier gezeigt werden, ertönt „Ihr sein nur ein Rinderzuchtverein, Rinderzuchverein...“.
Mein Kater macht mir zu schaffen. Ich unterhalte mich kaum. Zum Anpfiff bestelle ich ein Bier. Fühlt sich komisch an, das hier. „Fußball erschafft eine Gemeinschaft, soll verbinden. Du bist Teil davon.“ halte ich mir vor. Aber es fühlt sich nicht so an. Ich grenze mich ab. Schade. Ich mag Fußball, treibe selbst viel Sport und sehe Athleten gern gegeneinander antreten. Ich fiebere mit. Nur die Leidenschaft scheint mir zu fehlen.
In der Halbzeit laufen Nachrichten. Der Ton ist aus, stattdessen Musik, die entfernt an Elekto-Swing erinnert. Ein Fan steht mit seinem weißen Trikot in der Projektionsfläche des Beamers. Bilder aus dem nahen Osten fließen über sein Oberteil und die Wand. Bombenangriffe. Weinende Menschen. Ein hässliches Gesamtkonstrukt. Der Swing frohlockt weiter. Ich sehe mich in dem halbvollen Raum um. Die meisten vertreten sich draußen die Beine, ein paar sind sitzen geblieben. Auch sie realisieren das Szenario. Die bemalten Gesichter sind bedrückt.
Zur zweiten Halbzeit ist die Atmosphäre ausgewechselt. Ich trinke inzwischen mein drittes Bier. Kater-Adé. Gesellschaftsfähigkeit aus der Flasche. Der Ball rollt. Ich bin von den Leistungen der Spieler beeindruckt. Ein schönes Spiel. Während der Verlängerung knistert die Spannung spürbar. Sie hat sich 113 Minuten lang aufgeladen. Als das Tor fällt, bricht die Apokalypse los. Die Leute springen, schreien und umarmen sich, Tische fallen um, Flaschen gehen zu Bruch. Es hört überhaupt nicht mehr auf. Vollkommene Euphorie durchdringt den Raum. Der Kommentator ist für den Rest des Spiels nicht mehr zu hören, „Deutschland, Deutschland, Weltmeister!“-Gesänge füllen den Raum. Beim Abpfiff steigert es sich erneut.
Ich lächle und sitze auf meiner Fensterbank. Ich bin der Einzige, der noch sitzt. Ich freue mich für diese Leute, für die ausgelassene Stimmung, für die Freude am Weltmeistertitel. Wirklich.
Man muss nicht alles politisieren. Dieses Fußballspiel ist das Konzert einer Band, für die alle Feuer und Flamme sind. Leider kommen ihre Töne nicht zu mir durch. Der erhobene Zeigefinger und die Frage, ob die Fans meinen, dass ihr Team besser spielt, wenn sie die Leinwand anbrüllen, kann man sich sparen. Manchmal zählt die Stimmung. Nur weil man etwas nicht versteht, muss man es nicht verabscheuen. Ich freue mich trotzdem darauf, wenn die Nationalflaggen wieder abgehängt werden. Wenn der Shit-Storm in Kommentarform wegen des „Ravensburg statt Rio“ Artikel gegen die Taz-Redakteurin ihr Ende findet. Schmiert euren Senf lieber auf eure Bratwürste. Feiern ist ok. Kritik erwünscht.

Ruhe da draußen!“

Montag, 21. April 2014

Schallplatten und deren Hörer

Ich hasse Schallplatten und Leute die sie hören. Nein, das stimmt nicht ganz. Der Klang ist großartig, man hat etwas in der Hand. Im Regal sehen sie großartig aus, außerdem ist es toll, dass man sich meistens das gesamte Album anhört. Alben sind Gesamtkunstwerke. Man hütet sich davor, von Filmen nur das Ende zu sehen, geschweige denn einzelne Seiten aus Büchern zu lesen. Schallplatten müssen umgedreht werden, deshalb hört man sie bewusster – von allein machen dies nicht. Ich hasse keine Schallplatten und ich höre sie selbst.

Ich hasse nur die Vorstellung von Schallplatten. Die damit zusammenhängende Symbolik. Schallplatten hat man in der Hand, sie wiegen etwas und meistens sind sie alt. Um genau zu sein ist die Vorstellung von ihnen inszeniert bedeutungsschwer und abgegriffen. Die kratzende Nadel auf dem rauen Vinyl ist ungefähr so neu und romantisch wie Delphine im glitzernden Wasser oder Schwäne, die ein Herz aus ihren Hälsen bilden. Nichts ist heute so wichtig wie Authentizität. Ein Teufelskreis, wenn man sich selbst zuerst einmal vor sich selbst erklären muss. Was macht eine Person aus? Ist der Ursprung von Überzeugungen wichtig, von Ästhetik? Kann man Geschmack und Vorlieben beurteilen? Ich will nicht, dass mir Handyfotos, denen nach dem Knipsen mit Picasa ein 70er Jahre Filter aufgesetzt und ein Polaroid-Rahmen verpasst wurde, gefallen. Das ist nichts echtes. Natürlich wird die Welt schnelllebig und das Verlangen nach dem Schein von Beständigkeit ist selbstverständlich. Der reißende Datenfluss von kleinen Vintage-Fotos im Netz ist im größeren Betrachtet jedoch ironischerweise das Gegenteil von beständig. Überall sieht man bewährte, analoge Kameras und gleichzeitig sind die Mieten so teuer, dass die gesamte Wohnung die Größe einer Dunkelkammer besitzt.

Zeitgemäße Kleidung ist heute zeitlos.

Das Verlangen nach Authentizität bewirkt das Gegenteil.

Durch all das zeigt sich der extreme Konstruktivismus der Gesellschaft in einer für mich bisher ungekannten Härte. Die Absurdität der Mode, ja ganzer Lebensentwürfe und vor allem anderen das Problem, sich trotz dieses Wissens selbst einordnen zu müssen. Jede ablehnende Handlung könnte eine Trotzreaktion sein, jede Akzeptanz ein Schwimmen mit der Masse. Die Realität besteht scheinbar zu einem Teil aus ungeplanten, unbeobachteten Momenten und einem Teil Klischees. Und eigentlich existiert das alles nur in meinem Kopf.

Blumen zu verschenken finde ich romantisch. Platt, konservativ, einfallslos...aber romantisch. Nachts Texte bei offenem Fenster zu schreiben, während eine Kerze im Licht flackert und eine dampfende Tasse Tee den lauwarmen Zug des Frühlingswindes unterstreicht, während draußen milde Regentropfen auf das Kopfsteinpflaster fallen ist romantisch. Abgegriffen, inszeniert, unauthentisch und platt. Aber romantisch. Verfluchte Gedanken die in verbotene Erinnerungen abdriften sind eher melodramatisch, der Grad ist ein schwindend schmaler.

Richtige Romantik ist abstrakter und gleichzeitig unspektakulärer. Morgens ohne Grund einen perfekten Kaffee serviert zu bekommen, genau so, wie man ihn selbst machen würde. Unerbittete Postkarten. In Kneipen sitzen, ohne ein Wort sagen zu müssen. Nach Trennungen von Freunden mit dem Lieblingsessen und Schnaps überrascht werden. Selbstverständliche Handlungen, die plötzlich ins Bewusstsein geraten und als wunderbar klassifiziert werden. Und wenn ein Freund den Plattenspieler anschmeißt, weil er um die Beliebtheit der kratzenden Nadel weiß, dann sollte man das vielleicht einfach akzeptieren und sich ganz ungeniert freuen.