Mittwoch, 15. November 2017

Zeistgeist

Die meisten Menschen glauben nicht an Gespenster. Jedenfalls glaube ich, dass die meisten Menschen, gegeben des Falles, man würde sie auf der Straße ansprechen und sie nach der Existenz von Gespenstern fragen, selbige verneinen würden.
Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass es bei mir spuckt. Früher war mir sein Dasein nicht so bewusst, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto eher komme ich zu dem Ergebnis, dass seine omnipräsente Anwesenheit nicht zu leugnen ist. Besonders Nachts treffe ich jüngst immer häufiger auf diesen Zeitgeist.
Zugegeben, er begegnete mir auch nicht einfach so. Er hängt sich immer an Ereignisse - ihn ohne sie auszumachen zu wollen ist ein vergebliches Unterfangen. Viele Menschen haben das Bedürfnis seine Anwesenheit mitzuteilen. Bob Dylan. #forthetimestheyarea-changin´
Oft verliert man Dinge und wird sich plötzlich seiner Anwesenheit bewusst. Menschen sind negative Geschöpfe. Selten halten sie einen Moment inne und gedenken ihrer derzeitig allzu guten Lage. Aber oft jammern sie und klagen an, wenn es die Zeit mit ihnen gerade nicht gut meint.
Ich habe sie jüngst verloren. Und ich meine nicht die Zeit. Und dann wurde mir wieder seine Anwesenheit bewusst. Der Zeitgeist. Er sorgt dafür, dass Momente funktionieren. Das kann banal sein: Ich hatte hunger und da war etwas zu essen. Oder bedeutungsvoll: Ausgerechnet an dem Tag, an dem ich eine neue Episode meines Lebens begann, traf ich auf sie. Wer hat dieses Ereignis ausgerechnet? Der Zeitgeist. Wann macht er mir das Bewusst? Mitten in der Nacht, wenn er neben meinem Bett steht und mich aufweckt.
Sein Dasein hat viele Entitäten, er konstituiert sich für uns meist in Form von Erinnerungen. Er ist das Passen des Moments, dieses flüchtige Erscheinen. Er war als wir beide gleichsam orientierungslos waren, diese zusammenfließende Planlosigkeit. Dein nach vorn gerecktes Kinn, deine zurückgezogenen Schultern, die Ellenbogen hinter deinem Torso und die geöffneten Handflächen der unversöhnlichen Gesellschaft entgegen haltend . "Was denn, Arschloch?" frugen deine zusammengekniffenden Lippen bewegungslos. Ich pflichtete dir bei. Zuerst gibt es oft gemeinsame Ablehnung.
Aber schnell merkt man dann, dass im Differenzprinzip des Daseins eine Ablehnung gleichzeitig eine Zustimmung ist. Sich auf Ablehnung zu einigen ist leicht, #partnerincrime. Die selben Schlüsse aus der folgenden Zustimmung zu ziehen ist der wahre Kunstgriff und das weit größere Projekt. Man hat auch meistens mehr als ein Projekt zur Zeit an den Hacken.
Der Zeitgeist gibt mir zu verstehen, dass es nie mehr eine so heroische Ablehnung wie die unsere geben wird. Nicht in diesem Leben, nicht so krass, so kompromisslos. Dafür sind wir beide zu alt geworden. Immerhin sind wir ein ganzes Stück gemeinsam gealtert. Wert und Bewusstsein festigt sich nicht von heute auf morgen.
Nietzsche beschreibt unseren Prozess in den drei Verwandlungen. Ich bin sicher, dass er es für uns geschrieben hat. Für unseren Zeitgeist, der sich vom genügsamen Kamel zum selbstbestimmten Löwen entwickelte, um letztendlich hier zu landen: Unschuldige Kinder.
Frei von richtender Gesellschaft gibt es keine Schuld. Wir sind keine Kamele, wir tragen keine Schuld. Und wir, wir stellen irritiert fest, dass unsere Neuanfang nicht zueinander passen will. Meine Welt hab ich mir gewonnen, deine Welt hast du dir gewonnen. Nur die unsere ging unter.
Mit den Worten "Wir waren echt gut." weckt mich der Zeitgeist morgens um fünf. "Komm trink auf uns. Den guten Whiskey." Und ich trinke auf uns. Nicht um zu vergessen. Sondern für die Geste.
for the times, they are a-changin´.


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